Reminiscence

Einführung:

            Für mich ist die Komposition das Entwerfen, Entwickeln, Formen und Gestalten in der Zeit. Eine Komposition zu schaffen ist wie, einen Schatz aus dem Wasser herauszuholen. Der Schatz war die ganze Zeit im tiefen Wasser, jedoch unsichtbar. Man braucht nur die entsprechende Kraft und Mittel, um ihn aus dem Wasser zu heben und wahrnehmbar zu machen. Das ist dann der Anfang eines Erlebnisses. Sobald man das Objekt wieder in das Wasser zurückgibt, kann man es nicht mehr wahrnehmen; hiermit ist das Erlebnis zu Ende. Es ist die Aufgabe eines Komponisten, den ‚Schatz‘ als Hörerfahrung ‚sichtbar‘ zu machen. 

            Der Versuch, etwas Eigenes aus dem zu machen, was es schon gibt, sowie das Wollen und den Willen zu haben, etwas Neues zu lernen und sowohl die Welt als auch die Musik dadurch anders zu verstehen und zu erleben, ist genau das, was mich zum Komponieren hinzieht und mich daran interessiert. 

            In diesem Stück geht es um das Umwandeln und Zusammenführen von kleineren ‚melodischen’ Fragmenten, die kleinere Klangräume bilden, die darüber hinaus zu substanzielleren Klangtexturen werden. An einigen Stellen war mein Versuch sogar, nicht nur eine Klangtextur zu kreieren, sondern die Klangtextur als ein musikalisches Element zu behandeln oder wie musikalische Materialien und mit mehreren von ihnen eine Art polyphonische Klangtextur zu schaffen. Das Ergebnis ist eine große Klangmasse. In dieser Hinsicht könnte man sagen, dass dieses Werk nah an seinem ursprünglichen Konzept liegt. 

            Wenn wir die erste Stelle am Anfang (ab Takt 18) betrachten, an der die Bassflöte sich aus dem Klang des Gongs entfaltet, zuerst mit einem lang ausgehaltenen Ton, der zu einem melodischen Fragment aufblüht, ist es relativ eindeutig zu hören, wie ein paar Sekunden später die Bassklarinette mit klanglicher Unterstützung vom ersten Fagott mit einem zweiten melodischen Fragment einsetzt. Dieser Moment ist der Anfang des Umwandlungsprozesses, den ich gerade beschrieben habe. Die ersten vier Minuten sind noch quasi polyphon oder sogar kontrapunktisch wahrzunehmen. Am Ende dieser Passage hat die Musik jedoch einen Punkt erreicht, an dem die Zuhörer die einzelnen musikalischen Linien nicht mehr verfolgen können, sondern alles zu einem Gesamtklang fusioniert, der damit zu einer Textur geworden ist. 

            Der nächste Schritt dieses Prozesses ist, eine zweite Textur dazu zu nehmen und sie mit der ersten Textur zu kombinieren, um eine noch größere Klangmasse zu schaffen. Dieses geschieht auch an der entsprechenden Stelle. Die Holz- und Blechbläser bilden zusammen mit den tiefen Streichern zwei cluster-artige Klangwände, die dynamisch zwischen dem Vorder- und Hintergrund pendeln. Darunter schaffen die restlichen Streicher eine mikrotonal schwebende Klangtextur. Diese beiden Klangtexturen ermöglichen gleichzeitig einen großen musikalischen Raum, in dem sich der Zuhörer befindet und aufhalten kann.

            In meinem ersten Beispiel, von dem Schatz im Wasser, habe ich den Anfang und das Ende eines Prozesses angedeutet. Aus dem Unhörbaren entsteht die Musik und zu dem Unhörbaren kehrt sie wieder zurück, aber das musikalische Erlebnis bleibt. Zwischen dem Anfang und dem Ende ist eine Verbindung, die das Stück zusammenhält. Nach ungefähr der ersten Minute spielen alle Instrumente eine aufsteigende crescendierende Geste. Diese Geste führt zu dem ersten Gongschlag und dem Einsatz der Bass Flöte. Kurz vor dem Ende des Werks befindet sich eine sehr ähnliche Geste, jedoch absteigend und decrescendierend, an der wieder alle Instrumente beteiligt sind. Obwohl diese beiden Stellen nicht direkt am Anfang oder am Ende liegen, repräsentieren sie für mich das ‚Aus-dem-Unhörbaren-kommen’ und das wieder ‚Zum-Unhörbaren-gehen’ der Musik; das Sichtbar-Machen des Objekts sowie das wieder Unsichtbar-Werden. 

Analyse:

Das Stück besteht aus zwei großen Formteilen. Der erste Teil A geht vom Anfang bis zum Takt 74, der B-Teil von Takt 74 bis zum Ende. Diese beiden Großteile untergliedere ich jeweils in kleinere Abschnitte; den A-Teil in fünf- und den B-Teil in drei kleineren Abschnitte. Diese acht Abschnitte stimmen mit den Buchstaben in der Partitur überein, also Abschnitt 1 geht vom Anfang zu ‚A‘, Abschnitt 2 geht von ‚A‘ bis ‚B‘ und so fort. 

Die Einleitung: (vom Anfang zum Takt 17)

Zu Beginn und Ende des Stücks erklingen große ‚sfz‘ Tutti-Akkorde (Bild 1).  Es gibt in beiden erwähnten Passagen jeweils vier Akkorde.  Der ‚Anfangsakkord 1‘ erklingt insgesamt dreimal. Nach jedem Mal schließen sich jeweils drei weitere Mehrklänge an (im Bild 1 „a“, „b“ und „c“). Der Anfangsakkord 1 besteht aus drei groben Tonbereichen, in denen sich clusterartige Tonblöcke befinden. Aus den klingenden (nicht verdoppelten Tönen) ergeben sich zwei breite Moll Dreiton-Cluster; „c-Moll“ und „g-Moll“ und eine „e“ (mit schwarzen Notenköpfen daneben zu sehen). Der zweite Anfangsakkord besteht aus ungefähr den gleichen drei Clustern, jedoch im Vergleich zum ersten Akkord sind die Tongruppen deutlich dichter gefüllt. Wie beim ersten Akkord erklingt auch hier ein Mehrklang nach dem ‚sfz‘ Schlag des Orchesters. Bei dem dritten Akkord im Gegensatz zu den ersten beiden, ist es aufgrund der Dichte des Klangs nicht mehr sinnvoll eine Tonlagenunterteilung zu machen. Der letzte Akkord ist im Vergleich zu seinen Vorgängern etwas kleiner, dafür aber sehr kompakt. Bei diesem Akkord fehlt zum ersten Mal die Kontraoktave. Die nachklingenden Mehrklänge, die nach den anderen drei Akkorden erklangen, wandeln sich nun direkt nach dem vierten Klang zu der verdichteten Tutti-Aufwärtsgeste (siehe Takt 16). 

Bild 1

Zum Ende des Stücks erklingen auch nochmal große Tutti-Akkorde, die kompositorisch auf den Anfang zurückzuführen sind, also Reminiszenzen davon. Die ersten beiden Akkorde sind mit wenigen Unterschieden in der Basslage im Prinzip gleich und der vierte Akkord baut sich auf dem sehr reduzierten dritten Akkord auf. Im Verlauf der letzten vier Tutti-Akkorde gibt es keine eindeutige sukzessive Entwicklung, wie es vorher bei den vier Anfangsakkorden der Fall war. Das hängt aber auch mit der musikalischen Situation zusammen. Am Anfang war der musikalische Raum sehr leer und fragil. Gegen Ende ist aufgrund des Nachklangs der großen Abwärtsbewegung eine starke Dichte vorhanden (Takt 114). Die ‚sfz‘ Akkorde am Ende versuchen durch diese Klangdichte zu schneiden, um eine Klarheit und Ordnung wiedereinzuführen.   

Grundsätzlich war mir bei diesen beiden Stellen weniger die genaue harmonische Struktur der Klänge wichtig, da sie sowieso aufgrund ihrer klingenden Dauer eher punktuell wahrgenommen werden. Was für mich hier im Vordergrund stand, war eine Art ‚Klang-Filtration‘. Aus diesem Grund fand eine unterschiedliche Gestaltung der ‚Nachhall-Akkorde’ statt.

Die Kernmelodie: (Buchstabe ‚A’)

Eine strukturelle Kernidee dieser Komposition war eine stufenweise Entwicklung einer Melodie, die sich mit ergänzenden polyphonen Stimmen zu einer Klangfläche bildet. Darüber hinaus habe ich diese Klangfläche auf andere, neu erfundene Klangflächen geschichtet, um eine große Klangmasse zu erreichen. Allerdings würde ich diesen Schritt nach erneuter Reflexion verändern beziehungsweise kritisieren. Das klingende Resultat, was mit diesem Verschmelzungsprozess wahrnehmbar werden sollte, ging aufgrund des kulminierten Klangs unter.

Meine Ausgangsmelodie („Melodie 1“) für die stufenweise Entwicklung beginnt in der Bassflöte ab Takt 20 (Bild 2). Durch übliche kompositorische Techniken wie Spiegelungen und Transpositionen, habe ich diese Melodie im A-Teil fünfmal transformiert. 

Bild 2

Bei diesen fünf Phrasen habe ich Instrumentationsverdopplungen verwendet. Beim ersten und zweiten Mal ist die Bassflöte von einem Solo Cello und von einer Klarinette verdoppelt. Über die restlichen drei Phrasen verändert sich die Instrumentierung von dem Solo Cello über die Flöte zu den Oboen. Ab Buchstabe ‚B‘ erscheint auch in der zweiten Flöte die „Melodie 2“, eine Reorganisation der „Melodie 1“. Ab hier bis zum Buchstaben ‚C‘ habe ich dieses Melodiefragment sechsmal frei variiert beziehungsweise verändert. Die Klangfarbenunterschiede der jeweiligen Fragmente wurden auch hier durch unterschiedliche Instrumentierungen differenziert: mit Flöte, Marimba und Viola bis zu Piccolo, Flöte, und Oboe. Die genauen Instrumentationsgruppen sind im Bild 3 verdeutlicht worden.

Bild 3

In Takt 47 beziehungsweise Takt 49 (Bild 4) spielen viel mehr Instrumente (überwiegend Blasinstrumente) melodische Gesten, die ähnlich zu „Melodie 2“ sind, die ich allerdings nicht zu meiner Instrumentationsliste von Bild 2 hinzugefügt habe. 

Bild 4

Der Grund hierfür ist, dass ich neben „Melodie 1“ und „Melodie 2“ in der gleichen Art und Weise zwei weitere „Melodien“ komponiert habe; eine in der Bassklarinette und eine in der ersten Flöte. Siehe Bild 5 und 6 für eine genaue Darstellung dieser beiden „Melodien“ sowie die entsprechenden Orchestrierungen, die ich in diesem Zusammenhang benutzt habe. 

Bild 5
Bild 6

Die Klangflächen: (Buchstabe ‚C‘)

Bei ‚C‘ ist der erste Schritt meiner Entwicklungsidee beendet. Ab dieser Stelle beginne ich, mit mehreren Klangschichten zu arbeiten. Die erste Schicht davon besteht aus drei Gruppen, die ungefähr eine Oktave auseinanderliegen (Bild 7). 

Bild 7

Die erste Gruppe, die überwiegend aus Holzbläsern besteht, spielt einen breiten Cluster in relativ hoher Lage. Die zweite Gruppe spielt im Prinzip dasselbe, jedoch um c’ herum. Bei der dritten Gruppe ergibt sich aus dem Akkord ein breiterer Cluster. Diese Gruppierungen sind nicht nur wegen des Tonumfangs zu definieren, sondern auch wegen der Dynamiken, was eigentlich am entscheidendsten ist. Aus diesen drei Instrumentationsgruppen ergeben sich drei polyphonische Pulsationsschichten, die an dem cresc. und decresc. zu erkennen sind. Es gibt nicht nur harmonische, sondern auch rhythmische Gruppen (Bild 8 und 9). Die rhythmischen Pulsationen einzelner Instrumente sind meistens mit anderen Instrumenten aus der gleichen harmonischen Gruppe gekoppelt, allerdings sind die genauen Kombinationen der Instrumente frei entstanden. 

Bild 8
Bild 9

Die zweite Schicht, die sich während der Pulsationen aufbaut, ist in den höheren Streichern zu finden (Bild 10). Diese Schicht unterzieht sich einem Wandlungsprozess mit unterschiedlichen Stationen. Erstens ergibt diese Schicht eine polyphone, repetierende Textur.

Bild 10

Nach drei Wiederholungen wird diese Textur zu schnellen und ungenauen glissandi (Bild 11), die systematisch durch die Streicher wandeln. 

Bild 11

Während der Auflösung der glissando Schicht wird eine pizzicato Schicht eingeführt. Eine letzte Textur erscheint innerhalb der Ausdünnung der pizzicato Schicht, die aus trillernden Noten mit ‚auftaktartigen‘ Vorschlagsnoten besteht (Bild 12). 

Bild 12

Der „Verschmelzungstopf“ (ab Buchstabe ‚D‘):

Der zweite Großteil des Stücks ist eine Kulmination von Verschmelzungen der bisher vorhandenen Elemente. Auf der einen Seite entwickele ich einzelne musikalischen Elemente, um die zu sogenannten musikalischen Texturen (Schichten) zu kreieren. Währenddessen werden auf der anderen Seite diese Schichten miteinander zusammengeführt, um eine große Klangmasse zu erreichen. In der folgenden Auflistung kann man zusammen mit den anschließenden Bildern, allmählich das Verschmelzen der Schichten im Verlauf des B-Teils beobachten.

  • „Schicht 1“ besteht aus lang ausgehaltenen Tönen, die allmählich von kleinen Figurationen ergänzt werden (Bild 13, Gelb). 
  • „Schicht 2“ besteht aus Flageoletts in den Streichern, die am Ende von Teil-A begonnen haben (Bild 13, Lila). 
  • „Schicht 3“ ist eine pizzicato Schicht. Ab Takt 100 bekommt diese Schicht kleine ‚Seufzer-Gesten‘ (Bild 13, Rot).  
  • „Schicht 4“ erscheint zum ersten Mal in Takt 93 in den tiefen Streichern. Sie ist eine Schicht, die aus schnell, leicht-glissandierenden und repetierenden Tönen besteht. (Bild 15, Grün). 
  • „Schicht 5“ ist im Prinzip eine Wiedererscheinung der ‚Pulsations-Fläche‘ aus dem ersten Teil (Buchstabe ‚C‘) (Bild 15, Pink).
  • Ab Takt 105 werden die einzelnen Schichten allmählich zusammengeführt. Zum Beispiel im Bild 16ist die dritte Schicht nicht mehr vorhanden, ab Takt 108 verlassen die Holzbläser „Schicht 5“ und steigen auf „Schicht 4“ um. 
  • Bei der Fermate in Takt 113 haben sich alle Schichten wieder zusammengefunden. Es gibt einen letzten Unisono Takt vor dem ‚Ausklang‘ des Stücks. 
Bild 13
Bild 14
Bild 15
Bild 16

Ausklang (Buchstabe ‚F’):

Nach der lauten unisono Tutti-Stelle wird das Stück nach und nach abgebaut. Der allererste Schritt des Abbauprozesses ist die Abwärtsgeste des Orchesters, die Bezug auf die Anfangs-Aufwärtsgeste nimmt. Anschließend steigen nacheinander die einzelnen Instrumente aus dem Gesamtklang aus, gelegentlich auch mit schnellen, ausatmenden Verläufen. Ab Takt 129 erklingen die am Anfang analysierten Tutti-Akkorde, die dann wieder zu der solo Bassflöte führen. Das Stück schließt mit kleinen Reminiszenzen der ersten Bassflöten-Melodie ab.